Beat Jans zu Grenzkontrollen: «Wenn wir alle Personen kontrollierten, würde unser System zusammenbrechen»
Interview, 21. September 2024: Aargauer Zeitung; Kari Kälin, Benjamin Rosch
Beim Süssgebäck ist Beat Jans Lokalpatriot. Der Justizminister offeriert CH Media beim Interviewtermin Basler Läckerli. Die Autogrammkarte in seinem Büro hingegen ist international. Sie stammt von Dominic Lobalu, der in der Schweiz als Flüchtling aufgenommen wurde. Der Spitzenleichtathlet dankte Jans, dass dieser sich für ihn stark gemacht hat, bei Grossanlässen für die Schweiz starten zu können.
Beat Jans, zwei arabisch sprechende abgewiesene Asylbewerber griffen im August in Davos einen orthodoxen Juden an. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Ich war schockiert. Gleichzeitig hat mich der Vorfall bestärkt in meiner Überzeugung, dass wir mehr tun müssen gegen Rassismus, religiöse Intoleranz und gegen Gewalt in der Schweiz. Wir akzeptieren keine Form von Gewalt.
Im deutschen Solingen hat ein syrischer Asylsuchender eine tödliche Terrorattacke verübt. Verändert diese Tat die Debatte in der Schweiz?
Die Hektik, die in Deutschland ausgebrochen ist, ist in die Schweiz hinübergeschwappt. Zahlreiche Vorstösse wurden seither eingereicht. Es gibt aber keinen Grund für Hauruckübungen. Das ist unschweizerisch. Die Situation im Asylbereich hat sich in der Schweiz in den letzten Monaten eher entspannt.
Wirklich? Die Kantone und Gemeinden bekunden grosse Mühe, genügend Unterbringungsplätze und Wohnraum für Asylsuchende zu finden.
Die Herausforderungen bleiben gross. Aber wir gehen beim wahrscheinlichsten Szenario davon aus, dass bis Ende Jahr 28'000 bis 29'000 Gesuche eingereicht werden anstatt bis zu 33'000. Zudem rechnen wir mittlerweile mit 17'500 anstatt 25'000 Gesuchen von Ukrainern und Ukrainerinnen. Die andere gute Nachricht lautet, dass es in Bundesasylzentren deutlich weniger sicherheitsrelevante Zwischenfälle gibt, auch wegen der 24-Stunden-Verfahren. Wir haben zudem klare Hinweise darauf, dass die Kriminalität auch rund um die Asylzentren sinkt, zum Beispiel in Boudry und Chiasso. Und wir sind besser bei der medizinischen und psychologischen Betreuung von Asylsuchenden.
Wie blicken Sie auf die ausserordentliche Asylsession in der nächsten Woche? Im Parlament stehen reihenweise Verschärfungsvorschläge im Raum.
Ich werde darauf hinweisen, dass wir in der Schweiz keine Schnellschüsse veranstalten, und auch darauf, dass wir auf die Verfassung und unser demokratisch legitimiertes Asylgesetz vertrauen. Das ist mein Kompass. Die Verfassung verpflichtet uns, Menschen vor Verfolgung und unmenschlicher Behandlung zu schützen. Die Verfassung schützt die Familien und die persönliche Freiheit, und sie verpflichtet uns zur Verhältnismässigkeit. Das gilt für alle Menschen in der Schweiz gleichermassen. Daran müssen wir unbedingt festhalten. Es wäre falsch, unsere freiheitlichen Grundrechte aufzugeben. Das ist das Ziel skrupelloser Machtpolitiker und Terroristen: Sie wollen Europa auseinanderdividieren.
Deutschland hat die Grenzkontrollen auf alle Nachbarstaaten ausgedehnt. Halten Sie das für eine Hauruckübung?
Es liegt nicht an mir, die deutsche Politik zu beurteilen. Es gibt aber grosse Unterschiede zwischen Deutschland und der Schweiz. Deutschland ist die Zieldestination für viele Migranten, die Schweiz ist eher ein Transitland. Ich stelle fest, dass wir in der Vergangenheit vieles richtig gemacht haben. Wir haben die Verfahren beschleunigt sowie viele Migrations- und Rückübernahmeabkommen abgeschlossen. Die Zahl der hängigen Rückführungen liegt bei etwas mehr als 4000. Wir sind eines der vollzugsstärksten Länder in Europa bei den Rückführungen und werden ständig besser. Zum Vergleich: Deutschland alleine hat mehr als 200'000 Rückkehr-Pendenzen.
Als Basler werden Sie die Kontrollen in Weil am Rhein bemerkt haben. Ist die Idee eines grenzenlosen Europas vorbei?
Im Gegenteil. Mit dem neuen europäischen Asyl- und Migrationspakt hat die EU das Bekenntnis abgegeben, dass sie zu den offenen Grenzen steht und die Asylmigration durch besseren Schutz der EU-Aussengrenzen eindämmen will. Auch die Binnenmigration soll bekämpft werden.
Aber die Grenzkontrollen in Basel sind spürbar.
Dazu Folgendes: Die Schweiz ist nicht Teil der Zollunion. Sie führt an ihren Grenzen seit jeher Zollkontrollen durch. Deutschland macht nun also das, was die Schweiz seit Jahr und Tag tut. Ich habe der deutschen Bundesinnenministerin Nancy Faeser klar gesagt, dass die Grenzkontrollen das Alltagsleben nicht erschweren dürfen. Ich habe ihr auch gesagt, dass wir Rückweisungen nicht akzeptieren würden. Das jetzige Regime aber ist moderat. Faeser hat mir auch bestätigt, dass die aktuelle deutsche Regierung keine Rückweisungen einführen und keine Massnahmen ergreifen werde, die in der Schweiz zu Problemen führen.
Faeser verkauft die Grenzkontrollen als grossen Erfolg. Wieso lehnen Sie systematische Kontrollen an der Schweizer Grenze ab?
Die Frage ist, was «systematisch» genau bedeutet. Wenn wir alle Personen kontrollierten, würde unser System zusammenbrechen. Endlose Staus an der Grenze wären die Folge. Das jetzige System funktioniert. Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit führt risikobasierte Kontrollen durch und beurteilt die Lage laufend neu. Es setzt Schwerpunkte, zum Beispiel auf die Bekämpfung der Schlepperkriminalität. Ich habe im Bundesrat beantragt, während der Fussball-EM und der Olympiade die Kontrollfrequenz zu erhöhen. Auf die Anzahl der Asylgesuche hatte das keinen Effekt. Das zeigt: Es ist eine Illusion, zu glauben, Grenzkontrollen seien das Allheilmittel für alle Migrationsprobleme.
Immerhin hat Deutschland nach eigenen Angaben seit letztem Herbst 12'000 Migranten in die Schweiz zurückgewiesen. Das ist nicht nichts.
Das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit nimmt die Menschen in Empfang und weist sie pflichtgemäss darauf hin, dass sie in einem Bundesasylzentrum ein Asylgesuch stellen können. Doch auch beim Bundesasylzentrum in Basel ist die Zahl der Asylgesuche gesunken. Wir gehen davon aus, dass diese Menschen die Schweiz wieder verlassen.
Können Sie nachvollziehen, dass Attentate wie in Solingen in der Bevölkerung Ängste auslösen?
Ja. Wir haben deshalb sofort die Situation in der Schweiz analysiert. Wir dürfen bei aller Bescheidenheit festhalten, dass wir bei der Terrorprävention vieles richtig machen und gemacht haben. Jeder Asylsuchende wird einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Der Nachrichtendienst stellt dabei in sehr wenigen Fällen eine Gefahr fest. Die grössere terroristische Gefahr geht von Jugendlichen aus, die sich schon in der Schweiz befinden und sich radikalisieren, zum Beispiel in den sozialen Medien. Der Bund hat deshalb einen bestehenden Aktionsplan vor zwei Jahren gezielt auf Jugendliche ausgerichtet.
Können Aktionspläne die Ängste in der Bevölkerung vor der Zuwanderung wirklich auflösen?
Ich werde meinen Beitrag dazu leisten, gezielte Massnahmen zur Stärkung der Sicherheit umzusetzen. Das bringt mehr, als wild Vorstösse einzureichen.
Wer in der Schweiz ein Asylgesuch stellt, hat mehrere sichere Drittstaaten im Schengenraum durchquert. Was ist falsch daran, diese Gesuchsteller zurückzuweisen?
Wenn wir feststellen, dass jemand bereits in einem anderen Land Schutz erhalten oder ein Asylgesuch gestellt hat, lehnen wir solche Gesuche bereits heute ab. So sind die Dublin-Regeln. Wir schicken aber niemanden in Länder zurück, in denen ihnen Folter und Verfolgung drohen. Das würde gegen die Bundesverfassung verstossen.
Ihre heutige Botschaft lautet: Keine Hektik, die Lage entspannt sich. Empfinden Sie denn den Druck aus SVP und auch FDP nur als Theater?
(Lacht.) Das haben jetzt Sie gesagt! Aber es ist so: Man sollte das tun, was wirkt. Und nicht das, was gut klingt.
Im Februar ruhten Ihre Hoffnungen auf der abschreckenden Wirkung der 24-Stunden-Verfahren für Gesuchsteller aus Nordafrika. Doch sie bringen nichts. Die Zahl der Gesuche aus diesen Ländern ging nicht zurück.
Es stimmt, dass diese Massnahme nicht zu rückläufigen Asylgesuchen geführt hat. Das hat auch damit zu tun, dass wir die Gesuche jetzt sofort erfassen und nicht erst bei Abnahme der Fingerabdrücke. Die 24-Stunden-Verfahren sind dennoch ein Erfolg. Sie haben dazu geführt, dass die Zahl von Übernachtungen in Bundesasylunterkünften von Menschen aus den Maghreb-Staaten um 40 Prozent gesunken ist. Das entlastet das Personal und hat auch die Sicherheitslage in den Unterkünften spürbar verbessert. Wir wollen weitere Massnahmen ergreifen.
Nämlich?
Ich habe einen weiteren flächendeckenden Pilotversuch per Oktober angeordnet: Neu sollen Asylsuchende auch übers Wochenende registriert werden. Bislang kamen die Leute zwar auch am Samstag in die Asylunterkünfte, registriert hat man sie aber erst am Montag – wenn manche schon wieder weg waren. Unsere Evaluation des 24-Stunden-Verfahrens hat gezeigt, dass Asylunterkünfte von dieser Personengruppe immer noch als Wochenendhotel missbraucht werden. Das wollen wir nicht.
Könnte man die 24-Stunden-Verfahren auch auf andere Länder ausdehnen als die Maghreb-Staaten?
Das ist schwierig. Unsere Verfahren sind schon schneller als im Ausland, was nicht zuletzt im Sinne der Betroffenen ist – auch jener, die unseren Schutz wirklich benötigen. Aber die Entscheide müssen auch vor dem Bundesverwaltungsgericht standhalten.
Derzeit prüfen mehrere Länder, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern. Eine gute Idee?
Ich hatte vor wenigen Tagen ein Treffen mit Filippo Grandi. Er ist der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge und so etwas wie der höchste Anwalt für Menschen auf der Flucht. Er sagt, dass diese Verfahren unter bestimmten Bedingungen sinnvoll sein können. Das entspricht auch meiner Überzeugung. Natürlich kann man es nicht anstellen wie Grossbritannien mit Ruanda, indem man einfach Geld und Flüchtlinge schickt und glaubt, das Problem sei gelöst. Wenn man aber die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte gewähren kann, indem unser Personal die Verfahren vor Ort in Zusammenarbeit mit anderen Staaten durchführt, kann das zielführender sein, als wenn Menschen das Risiko eingehen, im Mittelmeer zu ertrinken. Wir müssen Migrationspolitik entlang der ganzen Fluchtkette denken – auch, indem man den Ländern hilft, aus denen Menschen überhaupt auswandern.
Sie haben nun verschiedene Massnahmen vorgestellt. Man könnte sagen: Sie reagieren auf die Kritik der SVP, die kürzlich laut geworden ist.
Diese Kritik gehört zum Geschäft. Aber man könnte auch mal erwähnen, wenn etwas funktioniert.
Trifft Sie der scharfe Ton von rechts?
Nein, damit habe ich gerechnet …
… und die Kritik von links, Sie seien ein Asylhardliner?
(Zögert.) Diese ist vielleicht etwas heftiger ausgefallen, als ich es erwartet hatte. Aber auch das gehört zum Geschäft.
Wo verorten Sie sich selbst?
Ich orientiere mich an den Werten, die uns die Verfassung vorgibt. Ich bin ein Verfassungspatriot. Dazu gehören auch das Völkerrecht und die humanitäre Tradition der Schweiz.
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